Pages

Saturday, September 5, 2020

Schlafen im Hängezelt: Eine Nacht in luftiger Höhe in Pontresina - NZZ Bellevue

beritaterikat.blogspot.com

Wie eine Nabelschnur führt das rote Seil vom Portaledge am Hang hinauf zur Felskante. Dahinter erst wartet fester Boden. Es sind nur ein paar Meter, doch ohne das Seil, an dem die zwei Karabinerhaken des Klettergurtes eingehakt sind, wäre die Distanz unüberwindbar.

Wer normalerweise in einem Portaledge übernachtet, hat es deutlich weiter, bis er sich vom Seil lösen kann. Darin schläft, wer eine Wand, meist sogenannte «Big Walls» wie die Eiger Nordwand, nicht an einem Tag erklettern kann. Kletterprofis mit jahrelanger Erfahrung ist dieses Erlebnis gewöhnlich vorbehalten.

Eine Gondelfahrt von Pontresina weit entfernt konnte Engadin Tourismus einen Felsen gewinnen, so dass man eine Nacht in dieser Felswand seit diesem Jahr einfach über die Bergsteigerschule Pontresina buchen kann. Schwindelfrei und berggängig muss man sein. Den Schweiss und die Tränen eines erfahrenen Alpinisten bedarf es dazu nicht.

Fast drei Jahre hat es gedauert, bis man die Bewilligung dafür durchgebracht hat, in einen Felsen nahe der Alphütte Languard für Gästegruppen von bis zu 5 Personen für jeweils eine Nacht bis zu drei Portaledges hängen zu dürfen. Die Zelte werden jeweils am Abend aufgebaut und sind am frühen Morgen, bevor der erste Wanderer sie sehen könnte, bereits verschwunden. Das Landschaftsbild wird dadurch nicht dauerhaft verändert.

Für den Landschafts- und Naturschutz bedeutet das Zelten in der Felswand dennoch ein grosser Eingriff in die Natur. So macht man sich Sorgen um die Vogelwelt, die den Felsen möglicherweise eher meiden würde aufgrund der routinierten, wenn auch jeweils nur temporären Störung.

Das Engadin sei sich dem Wert und Potenzial seiner Natur, aber auch als touristische Attraktion sehr bewusst, sagt Jan Steiner, Tourismusdirektor des Engadins. Man dürfe jedoch nicht in der Vergangenheit verharren und müsse bereit sein, Kompromisse einzugehen, um Gästen attraktive Angebote bieten zu können.

Um 7 Uhr rüttelt der Bergführer am Zelt. Wach war man längst. Die Dämmerung hat den Schlaf langsam vertrieben, bis die Morgensonne und der Duft von frischem Kaffee alle Sinne auf Tag eingestimmt haben. Ein paar letzte tiefe Atemzüge lang liegt man in der gemütlichen Horizontale. Gebettet auf einer mit Daunen gefüllten Schlafmatte, eingekuschelt in einen genau richtig warmen Daunenschlafsack.

Solange man liegt, fühlt man sich wie in einem normalen Zelt, mit dem Vorteil, dass sich nicht das kleinste Steinchen in den Rücken bohrt. Ein Fenster gibt verschwommen das Panorama auf den Morteratsch Gletscher frei. Bevor man am Abend zuvor die Augen zugemacht hat, hat der Mond hindurch geschienen und eine Sternschnuppe hat sich den durch das Folienfenster gerahmten Himmelsausschnitt ausgesucht, um den Portaledgianern mit langem hellem Schweif ein entzücktes «Awww» zu entlocken.

Bei der Vorstellung, dass Kletterer auf extremen Touren zuweilen Tage bis Wochen in solch einem Portaledge festsitzen, weil sie an der Wand eingeschneit werden oder sie ein Sturm überrascht, verliert das Portaledge schnell an Charme. Plötzlich ist es vor allem eines: verdammt eng. Mehr als sich um die eigene Achse drehen und die Beine am über einem baumelnden Rucksack vorbei in die Luft zu strecken, liegt bewegungstechnisch nicht drin. Wohin, wenn man mal auf die Toilette muss? Wie essen zubereiten? Was zubereiten? Viel mehr als Powerriegel und Tütennahrung liegen nicht drin.

Dass das auf Dauer keine Freude bereitet, durfte man am Vorabend selber erfahren. Das inklusive Dinner der Nacht im Portaledge besteht genau darin. Einem Gericht aus dem Beutel: Chicken Ticka Masala, Gulasch oder lieber Farfalle mit Gorgonzola-Sauce? Zugegeben: Der Mansch aus dem Beutel schmeckt gar nicht mal so übel. Der Berg verzeiht viel. Am Ende zählt: Es ist warm und macht satt. Zudem verschwimmt die Erinnerung an das Mahl mit jener an eine Tüte Chips und ein Pack Nussstängeli, die der Bergführer für die Truppe im Schein der Stirnlampe hervorzaubert. Ganz ohne schlechtes Gewissen knabbert man in die Nacht hinaus.

Hochtragen musste der Bergführer den zusätzlichen Proviant nicht. Sehr komfortabel wurde alles Gepäck, das man nicht für den Aufstieg über den Klettersteig brauchte, mit der Gondel herauf gefahren. Zum Glück auch die Portaledges, denn ein solches Kletterzelt wiegt mit Überzelt 13 Kilogramm und übertrifft an Unhandlichkeit alles, was man je an Outdoorausrüstung erlebt hat. Das möchte man nicht im Schlepptau haben.

Wie es Big Wall Kletterer schaffen, dieses Ungetüm den Berg hinaufzuhiefen und es dann auch noch im Seil hängend in schwindelnder Höhe aufbauen, ist mir ein Rätsel. Wir, vier wohlgemerkt blutige Portaledge-Erstlinge, straucheln schon auf dem uns zur Verfügung stehenden Grasband beim Aufbau.

Damit nichts im Extremfall herunterfallen kann, sind alle Einzelteile miteinander verbunden. Eine erkennbare Ordnung aus dem Chaos herauszukristallisieren, erfordert ähnlich viel Geduld wie die Entwirrung einer verknoteten Halskette. Was manchmal sehr meditativ sein kann, muss nach einem Tag an der Wand schlichtweg nervenzehrend sein.

Die Vorstellung, sich nach diesem Kraftakt des hängenden Aufbaus nicht rasch die Füsse vertreten zu können, dafür in dem winzigen Hängezelt ein Abendmahl zuzubereiten, sich darin umzuziehen, geschweige denn auf Toilette zu gehen, alles eher wenig reizvoll.

Man selbst spaziert derweil wohl genährt unterm Sternenhimmel Richtung Portaledge. Schon im Schlafgewand, damit man sich nicht umständlich auf dem gefühlt halben Quadratmeter mit Schräge umziehen muss. Zur Nachttoilette wird man sich nicht aus dem Zelt heraushängen müssen. Das WC der Bergstation Languard steht den Portaledge-Gästen zur Verfügung.

Mit der Übernachtung eines Extremalpinisten im Portaledge an der Big Wall hat die Portaledge Erfahrung in Pontresina wenig zu tun. All die Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten des Angebots schneiden sich mit der Kargheit und der Entbehrung des Alpinismus. Der Big Wall Camper hängt nachts in der Wand, weil er noch höher hinaus will. Man selbst kommt hierher, um im Portaledge zu hängen und sich der Illusion seiner selbst als Alpinistin hinzugeben.

Beschwert hat sich über den vorhandenen Komfort niemand. Erst recht nicht das Frettchen, das man bei der Ankunft während des Zeltaufbaus noch über die Graskante hat flitzen gesehen. Das freut sich, das ihm in der Nacht nichts auf den Kopf plätschert, das kein Regen ist.




September 06, 2020 at 10:31AM
https://ift.tt/2QXNcLF

Schlafen im Hängezelt: Eine Nacht in luftiger Höhe in Pontresina - NZZ Bellevue

https://ift.tt/2ZrQ7jr
Seil

No comments:

Post a Comment